RABENVÖGEL:

Intelligente Schönheiten - Mythos und Wahrheit

Der Judasrabe

Der reiche und fromme Ritter Henrich Knippinck zum Grimberg hatte die Kapelle auf dem Bleck neubauen lassen. Nun wollte er auch ein schönes Altarbild aus Stein in seiner Kapelle haben. Da sprach er zu seinem Steinmetzmeister: »Suche in der Welt nach einem schönen und würdigen Bilde. Und wenn du eins gefunden hast, so meißele ein anderes danach für meine Kapelle.«

Der Meister reiste nun weit umher. So kam er auch in die große Stadt Mailand in Italien. Dort fand er in einem Kloster ein großes und schönes Bild, das war auf die Wand gemalt. Er fragte die Mönche: »Wie heißt der Mann, der dieses herrliche Bild gemalt hat?«, und sie antworteten ihm: »Leonhard heißt der große Meister. « Der Steinmetz reiste nicht länger umher; denn er meint, ein schöneres Bild könnte er doch nicht finden. Er kehrte zurück nach Grimberg und erzählte dem Ritter Henrich von der Schönheit und Herrlichkeit des Bildes. Da sprach der Ritter: »Wohlan, meißele das Bild aus Stein; dann soll es in der Kapelle hinter dem Altar aufgestellt werden. « Der Steinmetz meißelte nun das Bild so, wie er es im Gedächtnis hatte. Das geschah im Jahre 1574.

Als das Steinbild fertig war, wurde es hinter dem Altar feierlich aufgestellt. Zu der Feier kamen alle Bauern vom Bleck und aus der ganzen Umgegend herbei, um das Bild zu sehen.

Der Satan hatte von ferne wohl gesehen, dass so viele Menschen in die Kapelle gingen. Er wusste aber nicht, warum. Und doch hätte er es so gerne gewusst. Er wagte sich aber nicht zu nahe heran, geschweige denn in die Kapelle hinein. Da befahl er seinem Kundschafter, einem hässlichen Raben:

»Flieg aus, flieg aus, erkunde, bring Märe mir zur Stunde!«

Der Rabe tat, wie ihm sein Herr geboten hatte: er flog aus und schlich dem letzten Bauer nach, der in die Kapelle ging. Darin versteckte sich der Satansbote in einer Ecke. Er konnte von hier aus alles hören, was in der Kapelle vorging. Sehen aber konnte er so gut wie nichts. Als nach der Feier die Bauern aus der Kapelle hinausgegangen waren, schlüpfte eiligst der Rabe aus seinem Versteck hervor. Er wollte schnell das Bild genauer betrachten und dann seinem Herrn Kunde zubringen. Als er aber dann nach der Kapellentür flog und hinausschlüpfen wollte, schlug der Küster ihm die Tür gerade vor dem Schnabel zu. Und so musste der Rabe die ganze Nacht in der Kapelle bleiben. Als am nächsten Morgen der Küster in die Kapelle kam, verwunderte er sich sehr. Er sah nämlich auf der rechten Schulter des Judas einen hässlichen, struppigen Raben sitzen, der seinen Hals weit vorstreckte und dem Verräter böse Gedanken ins Ohr flüsterte. Als der Küster den Raben fortscheuchen wollte, flog dieser aber nicht weg, denn er war zu Stein geworden. Es sah so aus, als ob der Steinmetz ihn mit ausgemeißelt hätte.

So sitzt der Rabe noch jetzt auf der rechten Schulter des Judas im Kirchlein auf dem Bleck. Der Satan aber wartet heute noch auf Kunde von seinem Abgesandten.»

Quelle: Sondermann, Dirk (Hg.) (2006): Emschersagen. Von der Mündung bis zur Quelle. 1. Aufl. Bottrop: Henselowsky Boschmann. WS, Nr. 67 (nach Grasreiner, 162-164, vgl. Heinrichs, 119f)
Updated: 14/10/2015 — 0:30
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